Interview mit Isabelle Lieg
Im Gesamtdurchschnitt der letzten PISA-Studie ist Deutschland auf Platz 13: hinter Slowenien, Estland und Finnland. Was denken, woran liegt es? Was
sind die 3 gravierendsten Fehler in unserem deutschen Bildungssystem?
Wir haben zwar Bildung für alle Kinder, aber nicht frühzeitig und keineswegs unabhängig vom sozialen Hintergrund. Dafür haben wir zunehmend Migration und
damit auch die Problematik bildungsferner Eltern. Diese Eltern, ob deutsch oder ausländisch, sind nicht in der Lage oder willens ihre Kinder auf das Leben vorzubereiten. Und die Kinder dieser
Eltern erhalten weder im Kindergarten, noch in der Schule die sprachliche und inhaltliche Unterstützung, die sie so dringend benötigen. Meines Erachtens müssten gerade die Kindergärten sehr viel
mehr und besser auf die Bedürfnisse dieser Kinder eingehen, damit die spätere Einschulung mit Hilfe eines ähnlichen Vorwissens durch frühkindliche Bildung gelingt. Diese Förderung hat auch
positiven Einfluss auf die spätere Einstellung der Kinder zu Schule und Leistung.
Ein weiterer Mangel in unserem Bildungssystem ist nicht nur das Fehlen von ausreichend Kitaplätzen, sondern der flächendeckende Mangel an Ganztagsschulen,
also Schule den ganzen Tag, die den Kindern mehr Struktur, Inhalt, Sport, Erziehung und Unterstützung bietet und die Kinder weg von der Straße und weg vom Bildschirm holt. Stattdessen kommen
unsere Kinder mit Bergen von Hausaufgaben nach Hause und Eltern werden zu Hilfslehrern. Meine Freundin Jenny hat es geschafft, als junge Witwe ihre beiden Kinder zu ernähren und erfolgreich durch
die Schule zu führen. Das ist bei unseren Schulverhältnissen eine Meisterleistung, denn unsere Schulen verstehen sich lediglich als Halbtags-Vermittler von Wissen, alles andere soll die Familie
leisten, ob sie kann oder nicht. Dieses Alleinlassen der Kinder in der Schule und der Eltern zu Hause hat für viele Familien Konsequenzen, denn bei uns reüssiert nur, wer das Glück hat die
„richtigen“ Eltern zu haben und/oder wer ins Normgetriebe passt.
Und damit kommen wir zum dritten Fehler in unserem Bildungssystem. Zwar schafft die Politik die Inklusion und das G9 Gymnasium, doch fehlen in den
Kindergärten und Schulen die Präventionsmaßnahmen, um unsere Kinder ausreichend zu fördern und zu fordern. Andere Länder wie Slowenien, Estland oder Finnland bieten trotz geringerer finanzieller
Mittel allen Kindern eine individuelle Pädagogik, sei es durch Angebote für leistungsstarke Kinder, durch psychologische Lernbetreuung, durch Sprachtherapien oder durch sozial- und
sonderpädagogische Förderung für alle Kinder, die davon profitieren können. Auch diese Maßnahmen sind bei uns dünn gesät und sind zudem stark abhängig vom jeweiligen Bundesland. Ich denke auch
nicht, dass G9 das Leben vieler Schüler erleichtert. Ich bin eher der Meinung, dass es ihr Leiden verlängert, denn inhaltlich oder pädagogisch hat sich ja nichts verändert. Kinder werden durchs
Abitur gezwungen, die anderweitig besser abschneiden würden und vor allem glücklicher wären. Heißt es nicht immer, wir wollen, dass unsere Kinder glücklich sind. Wir nehmen aber billigend in
Kauf, dass sie sich durch die Schule quälen müssen. Der Schwierigkeitsgrad des Abiturs ist ebenfalls von der Politik abhängig und differiert stark im Nord-Süd-Gefälle, je nach den vorherrschenden
Einstellungen zu Leistung und Studienbefähigung. Dies wiederum führt zu weiteren Ungerechtigkeiten bei der Studienplatz Vergabe, wenn Studiengänge an einen Notenschnitt gebunden sind, was
mittlerweile auf die Mehrzahl der Studien zutrifft. Auch das Thema Zukunft hat in unseren Schulen keinen Platz. Da geht es um Allgemeinbildung, nicht aber darum, wie wir unsere Kinder mitten im
Wandel in ein digitales Zeitalter begleiten. Wir ignorieren seit vielen Jahren diese mehrdimensionale Herausforderung, selbst die digitale Ausstattung der Schulen scheitert am System! Auch wenn
wir im Bildungsvergleich kontinuierlich weiter abfallen, hindert uns das nicht, weiterhin verkopft und theoretisierend in den immer gleichen Strukturen und Konzepten zu verharren, während andere
Länder in der Lage sind sich fortzubilden, sich zu erneuern, sich an die Gegebenheiten anzupassen.
Was sind aus Ihrer Sicht die 3 Kernkompetenzen, die Jugendliche heute mitbringen müssen, um international zu bestehen?
An sich müsste ich jetzt antworten: sicherlich sehr gute Englischkenntnisse und grundsätzlich eine umfassende digitale Kompetenz. Aber ich möchte auf etwas
anderes hinaus! Seit mehr als sieben Jahren studieren und arbeiten unsere Söhne in den USA und ich erfahre dadurch was es heutzutage bedeutet international zu bestehen.
Daher möchte ich den Begriff „international“ bewusst weiter fassen. Jugendliche träumen nicht mehr nur von innereuropäischen Erfahrungen, sondern von
Studienaufenthalten und Arbeitschancen auf anderen Kontinenten. Dort erleben sie Internationalität jenseits ihrer Komfortzone. Vor allem erleben sie junge Menschen, die weniger behütet, sicher
und gesund aufgewachsen sind, und diese Schüler oder Studenten können oft nur mit ihrer Intelligenz im Wettbewerb um Schul-, Studien- oder Arbeitsplätze punkten. Ihre Herkunft oder Kultur zwingen
sie dazu alles auf sich nehmen, um ihren Verhältnissen entfliehen zu können. Sie sind ehrgeizig und hart im Nehmen, und mit dieser globalen Konkurrenzsituation müssen unsere - vergleichsweise
verwöhnten und behüteten Kinder - zurechtkommen, wenn sie international bestehen wollen. Ein Beispiel sind die United World Colleges. Das sind weltweit 17 Schulen, die den IB Abschluss bieten,
und ihre Schüler aus 80 bis 90 Nationen nach akademischer Leistung, ihrem sozialen Engagement, ihrer Persönlichkeit sowie ihrer Reife! auswählen, unabhängig von finanziellen Mitteln. Die Schüler
erleben täglich Wettbewerb, Herausforderung und vor allem Vielfalt (Diversity). Schüler dieser Schulen haben beste Chancen in beste Universitäten aufgenommen zu werden, oft wieder mittels eines
Stipendiums, das sie sich erarbeitet haben. Studenten in Deutschland brauchen keine Stipendien für Studiengebühren, denn der Steuerzahler kommt dafür auf.
Vor diesem Hintergrund sehe ich die erforderlichen Kernkompetenzen, die unsere Jugendlichen heute und in Zukunft mitbringen müssen, wenn sie international
reüssieren wollen, vor allem im Motivations- und Resilienzbereich. Sie sollen in der Lage sein sich mutig auf etwas einlassen zu können, ohne Intensität, Zeitdauer und Umsetzung zu fürchten. Sie
sollen auch unter widrigen Konkurrenzbedingungen bestehen, weil sie Probleme und Krisen als Anlass zu Weiterentwicklung und Innovation nehmen, und sie sollen lernen ihr Verhalten zu reflektieren,
damit sie in der Lage sind auf Unvorhergesehenes oder Unbekanntes ohne nachhaltige Beeinträchtigungen reagieren zu können.
Was können hiesige staatliche Schulen von internationalen Schulen lernen?
Als ich den Satz in einem Zeit Online Artikel über den Erfolg estnischer Bildungspolitik las: „ Bei Pisa geht es nicht darum, wie gut die Schüler sich den
Stoff angeeignet haben, sondern wie gut sie ihr Wissen praktisch anwenden können“,
war klar wie sehr unsere staatlichen Schulen von der Philosophie der Internationalen Schule lernen könnten, wenn sie denn nur hinsehen würden.
Im Vergleich zum hiesigen Schulsystem wird die Pädagogik, der Lehrplan und die Zukunftsstrategie der Internationalen Schule vom Prinzip der Ganzheitlichkeit
getragen. Und das bedeutet nicht nur, dass Schule Wissen vermittelt und die Umsetzung der Fähigkeiten und Fertigkeiten fördert und fordert, sondern auch, dass sie einen Erziehungs- und
Zukunftsauftrag verfolgt. Die Schüler sollen lebenslang lernen, kreativ und innovativ denken, ethische und global ausgerichtete Beiträge leisten und zu gesunden und ausgewogenen Persönlichkeiten
werden. Und dieses Ziel soll erreicht werden durch Neugierde und Unabhängigkeit, durch interdisziplinäres Wissen und das Verständnis für Zusammenhänge, durch kritisches und kreatives Denken für
komplexe Lösungen und ethische Entscheidungen, durch selbstbewusste Kommunikation in mehr als einer Sprache, auf unterschiedliche Weise und in Zusammenarbeit, durch Verständnis für Kulturen,
Perspektiven und Erfahrungen, durch Fürsorge und Respekt, durch Mut und das Einstehen für Werte, durch Ausgewogenheit, Ehrlichkeit, Integrität, Gerechtigkeit und die Übernahme von Verantwortung,
durch Einsicht und Reflexion. Warum zähle ich diese zehn Werte der Internationalen Schule auf? Um zu zeigen wie breit angelegt das IB Lernprofil ist im Vergleich zur deutschen Schule, und wie
stark die Ausrichtung auf die Lebenstüchtigkeit und die Fähigkeit der Schüler ist, sich weiterzuentwickeln, damit sie lernen auf positive Weise in einer komplexen und sich stetig verändernden
Welt Einfluss zu nehmen.
Und wie äußert sich diese ganzheitliche Ausrichtung der Schulbildung im Schulalltag? Die Kinder sind glückliche Schulkinder! Und das ist, was sich alle
befragten Eltern am meisten wünschen. Die Kinder verbringen den Tag in der Schule mit mehr Unterricht, mehr Sport und vielen anderen sozialen und nichtakademischen Inhalten und Aktivitäten. Sie
erleben mehr Unterstützung, mehr Struktur, mehr Erziehung und mehr Individualität. Stärkere Kinder profitieren von unterschiedlichen Leistungsstufen, schwächere Kinder von Fördermaßnahmen, alle
Kinder erleben positiven Wettbewerb z.B. durch das Personal Project, soziale Verantwortung durch Community and Service Hours ab der 8. Klasse, Motivation, wenn positive, freundliche Lehrer für
Schüler jederzeit erreichbar sind, und Zukunftsorientierung, weil Schüler von Anfang an nicht nur Robotik und Programmieren lernen dürfen, sondern lernen fächerübergreifend zu denken, um daraus
innovative Rückschlüsse und Lösungen zu generieren. Schulklassen werden jedes Jahr neu zusammengestellt, weil Kinder sich weiterentwickeln. Die Pädagogik folgt dem angelsächsischen Vorbild, ist
pragmatisch, nah am Kind und zeitnah in der Wirkung. Bei Mobbing Problemen kommt der „No Blame“ Ansatz direkt zwischen den Betroffenen zur Anwendung, bei uns schickt das KVR verspätet und fremd
einen Sachverständigen in die deutsche Schule, der einen Vortrag hält!
Somit hat die Internationale Schule m. E. eine echte Vorbildfunktion, wie es gelingen kann, dass eine Schule mehr Zeit für ihre Kinder hat, individueller auf
ihre Kinder eingehen kann und auch Wert auf ein Miteinander legt. Sie bietet schon seit langer Zeit eine Fülle von Ergebnissen und Erfahrungen an, die unsere Schulen übernehmen könnten, und
die nicht nur teuer sind, um Zweiflern zu begegnen.
Eine dieser Erfahrungen ist abschließend, welche Auswirkung die Internationale Schule auf die Freizeit und das Familienleben hat. Während die deutsche Schule
hilflos zusieht, wenn es zu Hause Probleme gibt, wenn es mit der Schule Probleme gibt,
wenn es mit der Sprache Probleme gibt, wenn es mit der Integration Probleme gibt, schafft die Internationale Schule ein Umfeld, in dem Kinder angehalten
werden selbständig ihre Hausaufgaben zu erledigen, weil sie ausreichend Anleitung und Zuwendung erfahren haben. Und wenn die Eltern nicht willens oder in der Lage sind Sport, Musik oder andere
Hobbies zu bieten, dann könne auch diese im Rahmen der Schule zur Entwicklung der Kinder beitragen.
Wie schafft man es als Eltern, sein Kind (vor allem in der Pubertät) zu motivieren, damit es sein persönliches „Stanford“ erreicht?
Diese Frage ist mit Sicherheit am schwierigsten zu beantworten, weil sie weit in das persönliche Empfinden, in die familiäre Situation und in den persönlichen
Erziehungsstil hineinreicht. Ich möchte uns als Eltern erst einmal hinten anstellen und zugeben, dass uns die Internationale Schule besonders in den pubertären Zeiten unserer Kinder sehr geholfen
hat. Sie bietet in Zeiten der Wankelmütigkeit eine feste Struktur, die für alle gleich ist und offenbar in Zusammenstellung und Inhalt akzeptiert wird. Schwänzen, Schummeln, Rauchen, Trinken und
andere Probleme, die auftreten, wenn Jugendliche mit den Hormonen kämpfen, werden in der Internationalen Schule nicht geduldet und auch nicht ausgesessen. Dazu kommt, dass internationale Eltern
in ihrem Erziehungsstil häufig strenger und fordernder sind als deutsche Eltern. Da sie auch zukunftsorientierter als deutsche Eltern sind, ist für sie wichtig, dass ihre Kinder weiterhin gute
Noten nach Hause bringen und ihren Sport fortführen, da sie sich bereits vor dem Abitur auf die internationalen Universitätsbewerbungen vorbereiten müssen. Internationale Kinder können sich oft
nicht leisten, wie bei uns üblich, ihre Zukunftspläne komplett auf die Zeit nach dem Abitur schieben. Und dieses Vergleichsportal färbt ab, wenn es darum geht wie oft man wann und wo und vor
allem wie lange ausgehen darf. Da die Schule den ganzen Tag dauert, kommen die Kinder erst am Nachmittag nach Hause, außer sie bleiben in der Schule, um bei Theater, Musik oder vielen anderen
Hobbies mitzumachen, weil sie Mitglied in Sportteams sind oder sich anderweitig engagieren. So sind sie weg von der Straße, weg vom Bildschirm und stattdessen sinnvoll beschäftigt und
ausgelastet. Die Hausaufgaben werden nach der Schule zu Hause erledigt, ein Vortrag für Modell United Nations wird vorbereitet und mit den anderen Teilnehmern abgesprochen oder ein Beitrag für
Speech & Debate eingeübt, also weitere Gründe abends nicht um die Häuser zu ziehen. Und da sie von Anfang an angehalten werden selbstständig zu arbeiten, fällt ein wesentlicher
häuslicher Konfliktherd weg. Ja, die Kinder haben dadurch weniger Freizeit, die sie zu Hause verbringen, dafür aber grundsätzlich mehr Anregung, mehr Unterstützung und manchmal auch mehr
Zuwendung, als wenn sie Nachmittage lang alleine Computerspiele spielen.
Wenn sie meine persönliche Einstellung wissen wollen, kann ich zunächst behaupten, dass ich eher der Idee anhänge, Kinder aktiv, konsequent und gut gelaunt,
mit ausreichend Lob und genügend Herausforderung auf das Leben vorzubereiten. Ich halte nichts davon jahrelang zu chillen, herumzulungern, sich phasenweise ausschließlich langweilen zu wollen
oder zu sollen. Ich finde es wichtiger das Kind ehrlich wahrzunehmen, um zu verstehen wozu es in der Lage sein könnte und wozu nicht. Zu fördern, was notwendig und für das Kind erstrebenswert
ist, zu fordern, was das Kind zu leisten vermag. Denn ich finde es wichtig, dass Kinder lernen ihre Potentiale zu erkennen und auszuschöpfen. Dazu gehören auch Selbstvertrauen und Belastbarkeit.
Dann wissen sie später auch was sie studieren oder werden wollen.
Ich bin auch Anhängerin der Gattung „arbeitende Mütter“, da Kinder dann oft hautnah und weniger distanziert, als das oft bei Vätern der Fall ist, miterleben,
wie man Geld verdient, wie schwierig manche Tage sind, wie aufregend Erfolge sind, was Inhalte im Leben ausmachen. Die Kinder wachsen mit einem starken Realitätsbezug auf und werden frühzeitig
darauf vorbereitet, dass man im Leben nichts geschenkt bekommt. Schwierig wird es natürlich dann, wenn die Mutter arbeitet und die Kinder sich selbst überlassen sind.
Die Kunst in der Erziehung liegt darin, wie man seine Kinder motiviert, aber nicht frustriert, wie man sie ermutigt und nicht einschüchtert, wie man ihnen
ihre Möglichkeiten vor Augen führt und sie nicht über- oder unterfordert, aber dass man sie liebt und nicht vernachlässigt, dass man ihnen Verantwortung abverlangt, dafür aber auch Respekt zollt,
damit sie sich selbst lieben und achten können.
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